Theorie
Das Denken Wilhelm Reichs ist durch einen intensiven Entwicklungsprozess von seiner Ausbildung als Arzt bis hin zu seiner Theorie der Lebensenergie Orgon geprägt und integriert wesentliche wissenschaftliche und naturphilosophische Impulse des 20. Jahrhunderts.
Geprägt wird Reich in seinen jungen Jahren in Wien durch die Psychoanalyse Freuds. Manche ihrer Kernelemente - die Bedeutung traumatischer Erfahrungen für die psychische Entwicklung, die Bearbeitung von Verdrängung, Widerständen und neurotischen Abwehrmechanismen, die Befreiung von zwanghaften Verhaltens- und Denkstrukturen - behält Reich sein Leben lang bei. Auch als er sich längst von Freud gelöst hat, behandelt er viele Patienten, wie dieser, im Liegen.
Allerdings formt Reich die analytischen Ansätze zunehmend zu einer eigenständigen Theorie um. Dabei sind zwei Entwicklungen entscheidend: Zum einen beobachtet Reich, dass sich emotionale Widerstände bei der analytischen Therapie häufig aus charakterlichen Eigenschaften der Patienten ergeben, die beispielsweise durch übertriebene Höflichkeit, Überheblichkeit oder auch Skepsis gegenüber dem Therapeuten das affektive Erleben ihrer Konflikte abwehren. Daher fordert Reich neben der spezifischen Bearbeitung verdrängter Erinnerungen auch eine Analyse der charakterlichen Persönlichkeitsstruktur der Patienten.
Diese "Charakteranalyse", die bei vielen Analytikern seiner Zeit auf Zustimmung stößt, erweitert Reich zum anderen um die körperliche Dimension des emotionalen Erlebens. Er nimmt Freuds frühes Diktum ernst, dass es keine Neurosen ohne sexuellen Hintergrund gebe. Entscheidender Indikator für Krankheit und Gesundheit wird daher für Reich die "orgastische Potenz". Damit meint er allerdings keine technische Virtuosität beim Sex und auch nicht das bloße Funktionieren von Erektion und Ejakulation, sondern die Fähigkeit eines Menschen zur Hingabe an eine den ganzen Organismus mit strömenden Empfindungen und Zuckungen ergreifende Erregung jenseits des rationalen Bewusstseins. Die Funktion des Orgasmus liegt für Reich darin, die Energiebalance im Körper wiederherzustellen. Ist das Gleichgewicht von Erregung und Entladung gestört, äußert sich dies in muskulären Verhärtungen und Blockaden, schließlich auch in organischen Erkrankungen. Das Erleben eines Orgasmus in diesem umfassenden Sinn zeigt dagegen untrügerisch den therapeutischen Erfolg.
Mit diesen Konzepten vollzieht Reich gewissermaßen eine Wende von einer psychoanalytischen zu einer körperanalytischen Methode. Anstelle der von Freud entwickelten Technik der freien Assoziation der Gedanken treten die Beobachtung der Atmung und die Analyse des "Muskelpanzers". Die sexuelle Libido fasst Reich anders als sein früherer Lehrer nicht als psychische, sondern vor allem körperlich-vegetative Lebensenergie.
Mit dem Begriff des "Orgon", einer im Körper - wie im Kosmos - pulsierenden Energie, radikalisiert Reich seine Theorie ein weiteres Mal. Obwohl aus heutiger Sicht für manche befremdlich, ist die Idee einer universellen Lebensenergie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus im Denken vieler Philosophen und Naturwissenschaftler verankert. Die Suche nach einer nicht bloß analytisch-instrumentellen Weltsicht und die Frage nach dem eigentlichen Movens lebendiger Prozesse kennzeichnet Henri Bergsons Konzept des schöpferischen Élan vital ebenso wie die Forschungen des Biologen und Vitalisten Hans Driesch oder die Organismustheorie des Berliner Internisten und Charité-Professors Friedrich Kraus. Darüber hinaus besitzt die Idee des Orgon enge Beziehungen zu traditionellen östlichen Lebensenergiekonzepten wie dem Prana oder Chi.